Der tägliche Wahnsinn
Die 70er waren in jeder Hinsicht vielfältig und stellten die Weichen für sämtliche stilistische und popkulturelle Entwicklungen der Folgejahrzehnte. Die Flower Power-Bewegung der 1960er Jahre waren nun vollends im bürgerlichen Mainstream angekommen. Die Menschen sehnten sich nach neuen Anfängen. So sollten sich die 70er zu einem Jahrzehnt des Aufbruchs und des Ausprobierens entwickeln. Aus heutiger Sicht kann man schon behaupten, dass es in dieser Zeit ein klein wenig schräg zuging. Schrille Farben in Kombination mit wilden Mustern und Formen sind wohl die markanten Charakteristika des Stils in den 70er Jahren. Starke Farben wie Orange, Gelb, Braun oder Rot bei Möbeln, Tapeten und Teppichen prägen die Interieurs dieser Zeit. Als Kind der 70er Jahre bin ich mit all diesen Dingen aufgewachsen, habe diese lieben und auch schätzen gelernt. Einige halten bis heute Einzug in meinen Alltag.
„Flower Power für das Volk“ oder „Willst du viel, spül mit Pril“
Reizüberflutung lag in dieser Zeit an der Tagesordnung, es gab einfach keine Möglichkeit sich dieser zu entziehen, sozusagen der tägliche Wahnsinn. So auch in meinem Elternhaus, im Bad gab es braune Fliesen und die Badkeramik kam in Curryfarbe daher. In den 60ern oft noch im schlichten Grau gehalten, wurde es in den 70ern auch bei den täglichen Dingen des Lebens so richtig bunt.
So konnte man die Wählscheibentelefone und die täglichen Helfer der Küche zumeist in grün, rot und sogar in orange bewundern. Man besaß damals in der Regel nur ein Telefon. Platziert wurde dieses Wunderwerk der Technik oft im Flur auf einem Tisch nebst gehäkelter Decke. Wunderbar!!!!
Unvergessen auch bis heute die in der Küche angebrachten Textiltapeten seiner Zeit. Nostalgie und Kindheitserinnerungen werden ebenfalls geweckt, wenn ich an die Prilblumen des Fliesenspiegels der Einbauküche denke, diese eine kleine Ecke in der ich mich immer wieder austoben durfte. „Strahlender Glanz ganz ohne abzutrocknen“ prangte es in großen Lettern auf der Prilflasche! So wurde etwas Flower Power auch in die Küchen dieser Republik getragen.
In den Wohnzimmern seiner Zeit
Unvergessen sind bis heute die Tapeten der 70er-Jahre-Einrichtung in Wohnzimmern. Diese waren mit großen und kleinen Blumen in verspielten und geometrischen Formen gestaltet. Vor diesen Blumentapeten tummelten sich extravagant gemusterte Kissen auf Sofas und Sesseln in Samt-Optik. Gerade heute sind diese Designelemente wieder sehr gefragt. Auch die gradlinigen Formen der Wohnzimmerschränke seiner Zeit sind wieder angesagt. High-Tech-Kunststoffe in transparenten oder undurchsichtigen Varianten, in jedem Fall aber in leuchtenden Farben, kennzeichnen diese die avantgardistischen Elemente der 70er-Jahre-Einrichtung. So auch bei uns zu Hause.
Barfach, Schatz des kleinen Mannes
Die Schatzkammer des kleinen Mannes befand sich häufig in der Wohnwand integriert, war beleuchtet und verspiegelt. In ihr tummelten sich die Schätze ihrer Zeit.
- Asbach Uralt
- Underberg
- Dimple
- Tullamore Dew im Keramik Krug
- Korn
- Chianti im Bast Korb
Diese edlen Tropfen kamen dann meistens zu feierlichen Anlässen auf den Tisch. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Dimple und der Tullamore Dew, hatten doch ihre Flaschen ein für diese Zeit außergewöhnliches Design. Geleerte Exemplare fanden noch oft als Kerzenhalter für die Terrasse eine weitere Verwendung. Schöne Erinnerungen. So war es kaum verwunderlich, dass ich mich in späteren Jahren für diesen Genuss begeistern konnte.
Der Stein der Weisen und die kleine Laus
Um die Geschichte des Blends zu verstehen, begeben wir uns für einen kurzen Moment auf die Reise und verlassen die wilden 70er, um einen Blick in die noch weiter entfernte Vergangenheit zu werfen. Auf geht’s.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die kontinuierliche Destillation durch Robert Stein erfunden. Bei ihr wird der Whisky nicht in klassischen Kupfer-Brennkesseln (Pot Stills) gebrannt, sondern durchläuft zwei Metallröhren, von denen eine beheizte für das Sieden und Verdampfen der Maische sorgt und in der anderen das Kondensat wieder verflüssigt wird. Im Gegensatz zu den Pot Stills kann die Maische kontinuierlich nachgefüllt werden und die Rückstände müssen nicht nach jedem Brennvorgang mühselig entfernt werden. Dies ermöglichte erstmals die preiswerte und industrielle Herstellung von sogenanntem „Grain Whisky“.
Doch gab es durchaus auch Nachteile. Denn das Destillat aus der kontinuierlichen Destillation war lange nicht so geschmackvoll und aromatisch wie beim Pot Still Verfahren. So kam man auf die Idee die beiden Whiskys miteinander zu vermählen. Die Kunst des Blendens war geboren.
Mit zu den ersten Blendern gehörten Andrew Usher und William Sanderson, die preiswerten Grain Whisky mit Malt Whisky verschnitten und so den ersten Blended Whisky erschufen. Zu den ersten Marken gehörten die auch heute noch bekannten Namen: Black & White, Dewar’s, Haig, Vat 69 und White Horse.
Wenig später brach über die europäische Weinindustrie eine verheerende Reblausplage hinein, die große Teile des Weinbaus auf dem Kontinent zerstörte. Nur wenige Anbauflächen blieben von dem Schaden verschont und so ging der Absatz von Wein sehr stark zurück und die Preise stiegen ins unermessliche. Ersatz für Weine und Cognacs musste her – die Chance und der Siegeszug für Blended Whisky begann.
Die heute weit verbreitete Meinung, beim Blended Whisky handele es sich um ein minderwertiges Produkt, entbehrt übrigens jeglicher Grundlage: Die großen Blends werden aus mehreren hochwertigen Single Malt Whiskys komponiert, bisweilen unter Beifügung unterschiedlicher Anteile von Grain Whisky. In den meisten Fällen sind „heute“ hier in der Regel 30 oder noch mehr so genannte „Grundwhiskys“ beteiligt, die vom Master Blender des Herstellers nach einem speziellen Rezept und unter Berücksichtigung der Charaktereigenschaften jedes einzelnen Grundwhiskys zusammengestellt werden. Vorwiegend spielt ein bestimmter Single Malt Whisky eine besonders wichtige Rolle, er wird deshalb als „Lead Whisky“ bezeichnet und trägt ganz wesentlich zum Charakter des fertigen Blends bei.
Geschichten, die nur der Whisky schreibt
Es ereignete sich an einem Freitag, an dem wir in regelmäßigen Abständen, für jeden zugänglich, Zoom- Meetings zum Thema Whisky abhielten. Unser Meeting beschäftigte sich an diesem Abend mit dem Thema Einsteigerwhisky. Aber wie passen denn nun die wilden 70er zum Thema Einsteigerwhisky?! Eigentlich gar nicht, oder schließt sich hier etwa der Kreis?! Mit Stefan, Hagen und Klaus Postert, unser Local Dealer aus Köln, waren wir zur späten Stunde noch in der Nachbesprechung über die vorgestellten Whiskys aus der Runde. Dabei schweiften wir über Einsteigerwhisky zum Einstieg in die Whiskywelt über.
Das erinnerte mich an meinen ersten Whisky (Dimple), den ich mit jungen 18 Jahren im Glas hatte. Spontan hat mir Klaus angeboten, ein Sample von einem 12-jährigen Dimple aus den wilden 70ern zur Verfügung zu stellen. Große Freude und vielen Dank an dieser Stelle. Darüber hinaus konnte uns Klaus noch einiges zur Geschichte und Entwicklung von John Haig & Co Ltd erläutern. Denn zu seinem Portfolio zählen eben auch Raritäten aus längst vergangen Tagen. Hier lohnt ein Besuch!
Der alte Stoff (Sample)
Dimple ist ein Blended Scotch Whisky der Spitzenklasse – insbesondere die Abfüllungen aus den 50er bis 70er Jahren sind von außergewöhnlicher Qualität. Unser 12-jähriger Dimple wurde in den 60er Jahren destilliert und folglich in den 70er Jahren abgefüllt. Fast alle namenhaften Destillen lieferten in den 50er bis 70er Jahren ihren besten Whisky an Dimple bzw. deren Eigentümer John Haig & Co Ltd in Markinch Scotland. Der Single Malt Whisky wurde erst viel später populär.
Dort entstand ein blended Scotch Whisky, gegen den sehr viele heutige Single Malts wirklich blass aussehen und schmecken. Alte Dimple sind unglaublich komplex, gelegentlich leicht rauchig, sehr fruchtig, würzig, oftmals mit einer deutlichen süßen Note nach reifen Früchten, Ananas oder Marzipan. In jedem Fall mit sehr angenehmen Mundgefühl, ölig, mundfüllend, und einem langen, süßlichen sehr befriedigenden Abgang.
Jim Murray schreibt in seinem Buch über Blended Scotch Whisky von 1999 folgendes zu Dimple: Lead Whiskies: Glenkinchie gefolgt von Linkwood. Etwas alter Clynelish und für die weich-rauchige malzige Note ein wenig Teaninich. Als Grain Whisky kommen Caledonian und Cambus dazu. Ein recht hoher Malt Anteil von 60% +. Später wurde Cragganmore und Lagavulin in den Blend gemischt. Alkoholgehalt war früher 43% – zur Zeit liegt er nur noch bei 40%.
Der heutige Dimple Golden Selection hat keine Altersangabe und ist für ca. 25€ zu erwerben. Geschmacklich hat dieser leider nicht so viel zu bieten wie die älteren Abfüllungen der Brennerei. Zuvor gab es für einen längeren Zeitraum einen 15 Jahre alten Dimple, dieser wird auf dem Sekundärmarkt zwischen 50€ und 200€ je nach Abfüllung und Jahrgang gehandelt.
Sind wir also gespannt, was uns da im Glas so erwartet. Der Genuss verbindet hier Generationen! So soll es sein.
Remember Disco?!
Einen wunderschönen guten Abend, hallo Freunde, passend, getreu dem Motto „die wilden 70er“ mache ich es mir nun vor dem Fernseher gemütlich und schaue eine Sendung „Disco“ mit Ilja Richter. In Reichweite neben Block und Bleistift selbstverständlich unser Blend.
Licht aus! Spot An! Großartig 🙂
Destille: Haig & Co Ltd Markinch Scotland
Abfüller: Eigentümer- Abfüllung
Typ: Blended Scotch Whisky
Land / Region : Schottland
Alter: 12 Jahre
Fasstypen: unbekannt
Alkoholgehalt: 43%
Kühlfiltrierung: ja
Färbung: ja
Preis: 25,- DM
Whiskybase ID:
Auge / Anblick, Farbe: heller Bernstein
Nase / Geruch, Aroma (0 – 10): 8,5
Nach dem Einschenken erreicht die Nase ein Aroma, das keinen Zweifel daran lässt, dass wir es hier mit einem alten, angenehmen und komplexen Whisky zu tun haben werden. Er ist sehr fruchtig säuerlich süß, bringt ein Portfolio an floralen Noten mit, die mit den zuvor genannten Aromen wunderbar harmonieren. Wir finden weiter reife Ananas, Marzipan und altes Warehouse. Passend, wie ich finde. Aber es geht noch weiter: Honigsüße, Malzbonbons, feine Zitrusnote, Veilchen und etwas Orange können wir erkennen. Nun nimmt die Aromatik einen Verlauf, den ich nicht so erwartet hätte. Man findet sie wirklich, diese kleine kaum erkennbare Rauchnote. Harmonisch, komplex, einfach ein Erlebnis! 8,5
Mund / Geschmack, Körper, Konsistenz (0 – 10): 8,5
Süß fruchtig und angenehm würziger Antritt. Die zuvor in der Nase gefunden Aromen lassen sich auch im Antritt deutlich erkennen. Dann zunehmend ein wenig säuerlich, was aber in keinster Weise als störend empfunden wird. Es beginnt ein Wechselspiel mit der fruchtigen Süße. Blaubeere, Lakritz lassen sich zusätzlich erkennen. Angenehm wahrnehmbar ist eine leichte Schärfe, hier „weißer Pfeffer“, die nun den weich öligen Abgang einleitet. Am Gaumen haften bleibt hinten eine feine Karamell Note (Crème brûlée). Einzig die in der Nase ausgemachte feine Rauchnote konnte ich im Geschmack nicht finden. Macht aber auch nix!
So vielschichtig hätte ich diesen Blend nicht erwartet. Er besitzt einen tollen Körper und eine feine Textur. Die Aromen, die wir in diesem Blend entdecken konnten, harmonieren wunderbar, sind fein und gut. 8,5
Rachen, Speiseröhre, Magen / Abgang, Nachklang (0 – 10): 8,0
Süßer weicher langanhaltender Abgang, der auch angenehm wärmt – Wow. Crème brûlée zusammen mit Marzipan bleibt noch lange am Gaumen haften. Schönes rundes Eiche Aroma kommt noch am Ende hinzu. Welch ein Erlebnis. 8,0
Preis/ Leistung (0 – 10):
Für 25 DM ein echter Schnapper! :-))
Gesamtbewertung (0 – 10): 8,33
Fazit:
Wie auch im wahren Leben, sollte man dem Alter Respekt und Aufmerksamkeit schenken. Belohnt wird man mit außergewöhnlicher Qualität, Genuss und Freude. Warum sind denn nun die alten Blends so komplex und von so einer außergewöhnlichen Qualität?!
Ich denke, weil sich die Rohstoffe, das Holz der Fässer, sowie der gesamte Herstellungsprozess von denen heute merklich unterscheiden. Früher besaßen Destillerien vielfach noch eine eigene Mälzerei, die den Charakter eines Whiskys sehr stark prägen konnten. Ebenso hatten alte Gerstensorten evtl. mehr Eigengeschmack im Vergleich zu heutigen, die ja oft auf Ertrag getrimmt werden. Ein weiterer Hinweis könnte der „Old Bottle Effekt“ sein. Zwar findet in der Flasche keine gewöhnliche Reifung mehr statt, eine subtraktive Reifung mit etwas Abschleifen der Aromen über die Jahre schleicht sich aber weiter ein. Eigentlich eher kein gewünschter Effekt, da es auch zum Nachteil des Whiskys sein kann, aber es kann einen Whisky auch angenehmer, milder, tiefer schmecken lassen. So auch sicher in unserem Fall.
Abschließend kann man feststellen, dass es sich lohnt mal über den Tellerrand hinauszuschauen und sich auch mit alten Abfüllungen auseinanderzusetzen. Hier gibt es noch viel zu entdecken, und unser Experiment lässt sich natürlich auch auf andere Blends und Marken übertragen. Auch preislich gibt es bei den alten Blends noch das ein oder andere Schnäppchen zu schlagen.
Gerade auch in der heutigen Zeit erlangen die Blends immer stärkere Beliebtheit und dies zu recht wie ich finde. Davon konnten wir uns in der Vergangenheit schon mehrfach überzeugen und den ein oder anderen Preisleistungssieger ausrufen. Wir werden gewiss am Ball bleiben. Also ausprobieren lohnt sich in jedem Fall. Wer hier Support benötigt, ist sicher bei Klaus Postert bestens aufgehoben!
In diesem Sinne, ab ins Glas – denn Genuss verbindet.